Thermoformen und 3D-drucken statt Spritzgießen
Viel zu selten werden bei Neuprojekten neue Wege beschritten. Angeführt werden Kapazitäts- oder Zeitgründe, die dagegensprechen. Meist basieren neue Bauteile auf den Erfahrungen der bereits umgesetzten und werden lediglich an den notwendigen Stellen modifiziert. Ist die Stückzahl des Fahrzeugs jedoch gering und beläuft sich auf einige hundert oder ein paar tausend im Jahr, so ist die Investition in neue Spritzgießwerkzeuge sehr hoch und die Stückkosten der Bauteile ebenfalls. Dies wird häufig in Kauf genommen, da alternative Fertigungsverfahren nicht beleuchtet werden. Der Teileumfang des betrachteten Projekts, das zwischenzeitlich in Serie läuft, beträgt 19 Bauteile, von denen 17 als Spritzgieß- und zwei als Pressteil ausgeführt werden sollten. Nachdem SE Kunststoffverarbeitung, Langenargen, die Bauteile als Thermoformkomponenten vorgestellt hatte, wurde die geplante Umsetzung überdacht, wirtschaftlich bewertet und neu ausgerichtet.
Da die Projektierung schon weit fortgeschritten war, blieben dem Hersteller von technisch komplexen Thermoformbauteilen von der Auftragsvergabe bis zum SOP des Fahrzeugs lediglich vier Monate Zeit, um den Datensatz der Spritzgussteile für Thermoformteile umzusetzen, sowie die Werkzeuge, CNC-Fräs- und Montagevorrichtungen zu fertigen. „Wird ein Bauteil, das für das Fertigen im Spritzguss geplant war, in ein Thermoformteil überführt, so müssen teilweise Trennungen im Bauteil verlegt und komplexere Stellen in Einzelteile zerlegt werden, damit wir es herstellen können“, erläutert Thorsten Eymael, Geschäftsführer SE Kunststoffe. Zum Lieferumfang für dieses Premiumfahrzeug zählen Interieurteile wie Hutablage und mit edlem Leder dekorierte Verkleidungsteile sowie Exterieur- und Motorraumteile im Bereich des Frontends. Unter den am Bodensee gefertigten Interieurteilen befindet sich auch die B-Säulenverkleidung, deren Umsetzung nachfolgend näher betrachtet wird. Dieses Teil steht als Referenz für die insgesamt 19 Bauteile des Projekts.
Verfahren ergänzen sich
Mit 5 FDM-Drucker werden Haltelaschen und Verbindungselemente hergestellt. (Bildquelle: Simone Fischer/Redaktion Plastverarbeiter)
Dieses Verkleidungselement ist zweiteilig aufgebaut, da Ober- und Unterteil in unterschiedlichen Lederfarben oder -arten kaschiert werden. Die von SE hergestellte Baugruppe setzt sich aus mehreren Teilen zusammen: Ober- und Unterteil, Kopfteil, drei Laschen sowie ein additiv gefertigtes Element und ein Blechbiegeteil aus Edelstahl. Letzteres ist ein Zukaufteil, die weiteren Komponenten werden im eigenen Unternehmen hergestellt. Die 3D-Drucktechnologie und das Thermoformen ergänzen sich ideal in der Umsetzung von komplexeren Bauteilen. Mit den zwischenzeitlich 5 FDM-Druckern produziert das Unternehmen unter anderem zahlreiche Haltelaschen, Retainer und Abstandshalter, die bei der Montage durch Kleben mit dem Thermoformbauteil verbunden werden. Bei dieser Anwendung dient das gedruckte Bauteil als Durchführung und Befestigung von Lüftungsdüsen. Bei der Realisierung der Baugruppe im Spritzguss wäre dieses nicht additiv, sondern als separates Spritzgießteil gefertigt worden. Die drei rückseitig angebrachten Laschen, die zum Führen der verchromten Gurtblende und zum Befestigen an der Karosserie dienen, werden in Mehrkavitätenwerkzeugen gefertigt. Mit fugenfüllendem PUR-Heißklebstoff werden diese bei der Montage der Baugruppe mit dem Oberteil verbunden.
Die Hinterschnitte des Verkleidungsteils erfordern ein Werkzeug mit zwei seitlichen Schiebern. Im Vergleich zum Spritzguss wird beim Thermoformen von thermoplastischen Bauteilen selten mit Schiebern gearbeitet. In der Regel ist, je nach Geometrie des Hinterschnittes, eine Zwangsentformung möglich. Doch dies war bei diesem Bauteil aufgrund der Hinterschneidungen an beiden Längsseiten nicht möglich. Weiterhin wurde im Werkzeug eine Kaschierschanze vorgesehen, damit sich nach dem Beledern des Teils eine scharfe Kante und kein Radius durch das Flachdrücken des Schaums beim Kaschieren mit Leder ausbildet. Diese liegt hier in der Entformungsrichtung und ist dadurch einfach darzustellen. Ist sie um die Ecke ausgeführt, so ist es notwendig und möglich, auch hier mit Schiebern zu arbeiten.
Dennoch sind Thermoformwerkzeuge im Vergleich mit Spritzgießwerkzeugen einfach aufgebaut, da sie nur eine Werkzeughälfte besitzen und aufgrund der geringen Belastung bei der Formgebung nicht so massiv ausgeführt sein müssen. „Selbst hochwertige Thermoformwerkzeuge werden aus Aluminium hergestellt“, sagt der Geschäftsführer. „Die Werkzeugtemperatur während der Umformung ist abhängig vom verarbeiteten Material und den Ausformungsanforderungen an das Bauteil und dessen Oberfläche.“ Erforderliche Werkzeugänderungen besonders in der Entwicklungs- und Anlaufphase können schneller durchgeführt werden, da es keine Gegenseite gibt, die abgestimmt werden muss.
Das relativ geringe Gewicht der Thermoformwerkzeuge erlaubt die Werkzeuglagerung in Regalsystemen, was bei großen Spritzgusswerkzeugen aufgrund des hohen Gewichts nur bedingt möglich ist. Ist die Form für die Bauteilherstellung vorbereitet, so erfolgt das Umrüsten innerhalb von 15 bis 20 Minuten. Das Unternehmen hat derzeit mehr als 800 lebende Werkzeuge im Einsatz.
Hoher Freiheitsgrad
Der Formvorgang für dieses komplexe Bauteil gliedert sich in folgende Schritte: 40 s Vorwärmen der 3,5 mm dicken PC/ABS Platte, 35 s Fertigheizen mit IR-Strahlern in der Form, Formgebung und Abkühlen – 20 Züge pro Stunde. Für den Formgebungsprozess stehen 5 Thermoformanlagen zur Verfügung, auf denen Platten mit Abmessungen von 300 x 200 mm bis hin zu 2.500 x 1.500 mm verarbeitet werden können. Nach der Formgebung wird das Bauteil durch 5-Achsen CNC fräsen auf Maß beschnitten. „Dieser Frässchritt ist auf den ersten Blick ein zusätzlicher Arbeitsgang, bringt jedoch auf den zweiten Blick den Vorzug von Bauteilvarianten mit. So ist es uns in einem anderen Projekt mit vier Grundwerkzeugen und der anschließenden mechanischen Bearbeitung gelungen, rund 500 Artikelnummern entstehen zu lassen“, führt Eymael aus. Das Fräsen ermöglicht eine enorme Variantenvielfalt, da auf einfache Weise mehr oder weniger Befestigungslöcher eingebracht oder auch Aussparungen sowie Konturänderungen erzeugt werden können. Die beim Fräsen anfallenden Reststücke werden vor Ort sortenrein gesammelt und geschreddert. Aufbereitet wird das Material beim Hersteller der Platten, der das Rezyklat wieder in der Trägerschicht von neu hergestellten Platten einsetzt.
Große Materialvielfalt
Platten und Folien zum Thermoformen sind in zahlreichen technischen Thermoplasten wie ABS, PC/ABS, PP und HDPE, gefüllt und ungefüllt verfügbar. So können beispielsweise Bauteile aus einem mit 30 Prozent Glasfasern gefüllten PP tiefgezogen werden. Kohlestofffaserverstärkte Werkstoffe lassen sich ebenso verarbeiten. Dies macht den Einsatz dieser Technologie für Verkleidungsteile von Elektrofahrzeugen interessant, da relativ große Bauteile mit dünner Wandstärke und geringem Gewicht herstellbar sind. „Dies muss im Einzelfall diskutiert werden, da die Bauteile die entsprechende Eigensteifigkeit mitbringen müssen. Verstärkungselemente können bei diesem Verfahren nicht direkt erzeugt werden, sondern nachträglich aufgebracht“, erläutert Thorsten Eymael. Auch Polyamid und Polycarbonat werden verarbeitet. Polycarbonat kommt häufig bei dekorierten Teilen zum Einsatz. Die Rückseite der transparenten PC Platte ist bedruckt und die transparente Deckschicht sorgt für die Tiefenwirkung und Brillanz am fertigen Bauteil. Die Dicke der Farbschicht bestimmt den Verformungsgrad der Platte, denn im eingebauten Zustand muss die Farbwahrnehmung gleichmäßig sein.
Viele Platten sind im Co-Extrusionsverfahren gefertigt und besitzen eine Trägerschicht, die aus bis zu 100 Prozent Regenerat bestehen kann, und einer Deckschicht aus Neuware (zum Beispiel 75 Prozent Regenerat Unterschicht und 25 Prozent Neuware Oberschicht), die meist als Dekorschicht fungiert. Sie kann genarbt sein oder eine Dekorfolie besitzen, sich soft anfühlen oder wie im Fall der B-Säulenverkleidung einfach glatt sein. Zum Einsatz kommen die gleichen Dekore und Materialien wie im Spritzguss, sodass die im Interieur eines Fahrzeugs befindlichen Bauteile zusammenpassen. Selbst bei genarbten Oberflächen ist annähernd kein Unterschied erkennbar. „Die Narbung kann auch im Werkzeug erfolgen. Dadurch erhöht sich zwar der Preis der Form. Diese Mehrkosten amortisieren sich aber schnell, wenn mit einem günstigeren Werkzeug gearbeitet werden kann oder der nachfolgende Dekorationsschritt entfällt“, erklärt Eymael. „Die Werkzeugkosten einer Thermoform einschließlich aller folgenden Fertigungsstufen (Formen, CNC Fräsen und Montagevorrichtungen) betragen lediglich rund 20 bis 30 Prozent der Kosten eine Spritzgießbauteils.“
Preiswürdig
Für die B-Säulenverkleidung als fertige Baugruppe, so wie sie an den OEM geliefert wird, erhielt das Unternehmen gleich zwei Preise. Zum einen belegte SE den zweiten Platz beim SPE Automotive Award 2019 und zum anderen zeichnete der GKV das Unternehmen auf der K 2019 mit einem Innovationspreis aus. Das Bauteil war aufgrund seiner Kombination von Thermoformen, 3D-Druck und Fügeteilen sowie seiner hochwertigen Ausführung von der Jury ausgewählt worden. Thorsten Eymael ist stolz über den Preis, denn er zeigt ihm und vor allen Dingen seinen Mitarbeitern, dass es sich lohnt, Standardpfade zu verlassen und Grenzen zu überwinden, um am Ende ein tolles Produkt in den Händen zu halten.